„Mit einer Reuse fängt man Fische; hast du den Fisch gefangen, kannst du die Reuse vergessen. Eine Schlinge braucht man zum Fangen von Kaninchen; ist das Kaninchen gefangen, kannst du die Schlinge vergessen; hast du die Idee erst einmal begriffen, kannst du die Wörter vergessen. Wo finde ich nur einen Menschen, der die Wörter zu vergessen weiß, so dass ich einige Wörter mit ihm wechseln könnte?“

Zhuangzi [2]

Die sehr komplexe Praxis des Qi Gong und Taichi hat ihre Ursprünge innerhalb der daoistischen Kulturströmung des alten Chinas zur Zeit des 6. –  3. Jahrhunderts v. Chr. Daoistische Naturphilosophie erlebte damals, neben der bei weitem bedeutsameren konfuzianischen Gesellschaftslehre, einen Aufschwung, welcher sich in vielen Aufzeichnungen und Schriften niederschlug. Bis heute bekannt sind vor allem die Werke der Philosophen Lao Tse (Daodejing) und Zhuangzi. Dieser Zeitabschnitt ging in die Geschichte als Epoche der Streitenden Reiche ein. Viele kleinere und größere Fürstentümer kämpften um ihre Vorherrschaft. Wie so oft in Krisenzeiten treten für die Folgezeit bedeutsame und prägende Persönlichkeiten auf. Konfuzius, wohl der bekannteste Philosoph des alten China,[3] antwortete auf die Wirren und Kämpfe seiner Zeit mit einem moralisch-ethischen Konzept. Ordnung, Struktur und Reglementierung sollten die Menschen zu friedvoller Vernunfteinsicht führen.

Einen anderen Weg schlugen die Anhänger der daoistischen Kulturströmung ein.
Frieden könne oder müsse der Mensch zuallererst in sich selbst finden, um alsdann zu einem friedlichen Miteinander beitragen zu können. Die Perspektive menschlicher Entwicklung ist ein dem eigenen Wesen gemäßer Bewusstseins-Prozess. Daoistische DenkerInnen wussten, dass einschränkende Traditionen und Reglementierung individuelles Wachstum behindern. Allein ein Mensch, der seine Persönlichkeit kultiviert, sein Bewusstsein verfeinert, kann ein „wahrer Mensch“ werden. Ein solch „wahrer Mensch“, der letztlich seinen kleinen menschlichen Geist zugunsten eines großen universellen Bewusstseins aufgibt, unterwirft sich keiner weltlichen Autorität, sondern folgt lediglich den Gesetzen des Dao.[4] Daoistische DenkerInnen, die sich selber als Freidenker und Naturphilosophen verstanden, zogen sich in kleine Gemeinschaften zurück (da diese noch wenig Reglementierung brauchten), um sich meditativer Übung und heilkundlicher Naturforschung zu widmen.

Im inneren Weg daoistischer Praxis spielt der Wert der Freiheit eine zentrale Rolle. Es finden sich in alten Texten viele Hinweise darauf, dass es für den Übenden im Laufe der Zeit wichtig wird, selbst vorgegebene Übungsanleitungen den eigenen Bedürfnissen und Talenten anzupassen. Es scheint unabdingbar, im Übungsweg dem eigenen Wesen, der eigenen individuell-emotionalen Persönlichkeitsstruktur gerecht zu werden, damit diese sich entfalten und reifen kann.[5] Auch viele Frauen folgten den Spuren daoistischer Praxis. Sun Bu Er, eine Philosophin des 12. Jahrhunderts, schreibt: „Man muss viel viel verstanden und erfahren haben, und für Menschen, die sich hierin schulen, ist es notwendig, bei klarem Verstand zu sein, denn Einlass findet nur, wer in sich selbst tief genug bewegt ist, um aus eigenem bis zur Tür zu gelangen. Würde alles aufgeschrieben, so hätte man aus einer lebendigen Methode eine tote gemacht. Da die Menschen aus Natur und Empfinden verschieden sind, da sie von unterschiedlicher Veranlagung sind, könnten sie mit der Praxis toter Methoden Krankheiten heraufbeschwören und würden nicht nur keinen Nutzen, sondern sogar Schaden stiften.“ [6] Man solle sich daher hüten, so Sun Bu Er, diese Künste zu ersticken.

Daoistische DenkerInnen wussten um die Relativität der Wirklichkeit. Sun Bu Er schreibt: „Die Gegenwart darf nicht verdinglicht werden, behelfsmäßig sagen wir, sich daran halten.“[7]

[1] Vgl. Manfred Kubny: Qi Lebenskraftkonzepte in China. Definitionen, Theorien und Grundlagen, Heidelberg 1995, Seite 1–8. Vgl. Alexandra Tschom (heute Gusetti): Die Kunst des Qi Gong und Taichi. Alte Wege neu beschreiten. Stuttgart 2008, Seite 16ff.

 [2]Zhuangzi: Chinesischer Philosoph, um 365- 290 v. Chr.
Zhuangzi. Das klassische Buch daoistischer Weisheit.Victor Mair (Hg.), Frankfurt/M. 1998, Seite 380.

[3] Kunfuzius: chinesischer Philosoph, 551 – 479 v. Chr.

[4] Dao: chinesischer Begriff, welcher ein naturimmanentes Prinzip universellen allumfassenden Wissens beschreibt.

[5] Vgl. Alexandra Tschom (heute Gusetti): Die Kunst des Qi Gong und Taichi. Alte Wege neu beschreiten, Seite 23ff.

[6] Zitiert nach Thomas Cleary (Hg.): Das Tao der weisen Frauen. Der weibliche Weg der inneren Entwicklung. München 1993, Seite 51.

[7] Zitiert nach ebenda Seite 108.

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